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Der Codex Sinaiticus

Eine der am meisten umstrittenen Stellen des Neuen Testaments im Zusammenhang mit der Diskussion um die Person Jesu ist Johannes 1,18. Grund hierfür ist der Codex Sinaiticus, eine Abschrift der Heiligen Schrift, welche von Constantin von Tischendorf, einem deutschen Theologen, im Katharinenkloster am Berg Sinai entdeckt wurde. Den ersten Teil entdeckte er 1844 und den zweiten Teil 1859. Der auffälligste Unterschied zu anderen Handschriften ist Johannes 1,18, wo statt der eingeborene Sohn die Formulierung der eingeborene GOTT auftaucht. Aus dieser Tatsache ergaben sich seither massive Kontroversen über die Frage, welche der beiden Übersetzungen die wahre bzw. ursprüngliche ist. Der Codex Sinaiticus enthält das vollständige Alte und Neue Testament sowie apokryphe Schriften wie Esdras, Tobit, Judith, I. und IV. Makkabäer, Weisheit, Ecclesiasticus sowie einige Pseudepigraphien, wie z.B. den sogenannten “Brief des Barnabas“ und den “Hirten des Hermas“.

Insgesamt gibt es im Codex Sinaiticus mehr als 23.000 Korrekturen. Dies war das Ergebnis einer umfassenden Untersuchung von H.J.M. Milne und T.C. Skeat vom British Museum, die 1938 in Scribes and Correctors of Codex Sinaiticus, London veröffentlicht wurde. Zudem bestehen zwischen Codex Sinaiticus und Codex Vaticanus 3.036 Textvariationen. Tischendorf identifizierte insgesamt vier verschiedene Schreiber, die am Schreiben des Originaltextes beteiligt waren. Auf fast jeder Seite des Manuskripts gibt es Korrekturen und Überarbeitungen, die von zehn verschiedenen Personen vorgenommen wurden. Tischendorf sagte, er habe insgesamt 14.800 Änderungen und Korrekturen im Sinaiticus gezählt. Außerdem wären immer wieder Umbauten vorgenommen worden, die meisten davon im 6. und 7. Jahrhundert.

Nach Tischendorfs eigener Einschätzung wäre beim Kopieren und Korrigieren des Neuen Testaments sehr nachlässig vorgegangen worden. In vielen Fällen hätte man 10, 20, 30, 40 Wörter weggelassen. Buchstaben, Wörter und sogar ganze Sätze wären häufig doppelt geschrieben oder begonnen und sofort abgebrochen. Dieser grobe Fehler kommt allein im Neuen Testament nicht weniger als 115 Mal vor, was nahelegt, dass die Schriftgelehrten, die den Codex Sinaiticus abschrieben, keine treuen Männer GOTTES waren, die die Heiligen Schriften mit größter Ehrfurcht behandelten. Stellen wie Markus 16,9-20 werden im Codex Sinaiticus ganz weggelassen, obwohl dieser Textabschnitt ursprünglich vorhanden war.

Im Jahr 1844 erreichte Tischendorf auf einer Reise unter der Schirmherrschaft von Friedrich August, dem König von Sachsen, auf der Suche nach Manuskripten das Kloster St. Katharina auf dem Berg Sinai. Dort sah er einige alt aussehende Dokumente in einem Korb voller Papiere. Er nahm sie heraus und entdeckte, dass es sich um dreiundvierzig Pergamentblätter der Septuaginta-Version (LXX) der Heiligen Schrift handelte. John Burgon gilt als Augenzeuge dieses Fundes. Offenbar haben die orthodoxen Mönche schon vor langer Zeit entschieden, dass die zahlreichen Auslassungen und Änderungen das Manuskript unbrauchbar gemacht hatten, weshalb sie es in einem Schrank aufbewahrten, wo es jahrhundertelang unbenutzt geblieben war.

Trotz seiner hinreichenden Mängel bewarb Tischendorf seinen Fund umfassend und energisch, da er angeblich einen genaueren Text darstelle als die Tausenden von Manuskripten, die den bis dato favorisierten Einheitstext stützten. Für seine Behauptung, dass der Text aus dem vierten Jahrhundert stammte, fand Tischendorf jedoch nie einen tatsächlichen Beweis. Westcott und Hort haben die King James Bible (1881 NT und 1884 AT) korrigiert, und den Textus Receptus durch Codex Sinaiticus / Vaticanus ersetzt. Die veränderte Version aus dem Jahr 1885 bekam den Namenszusatz “Revised Version“. Seit dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts dient der Codex Sinaiticus / Vaticanus als Basis fast aller modernen Bibelübersetzungen.

Mehrere der sogenannten “Kirchenväter“ des dritten bis vierten Jahrhunderts, die selbst glaubten, dass Jesus GOTT wäre, zitieren in ihren Briefen beide Versionen des Textes. Dies ist an sich kein Beweis, dass der Codex Sinaiticus tatsächlich so alt wäre, wie Tischendorf behauptete. Vielmehr zeigt dies, dass bereits zur damaligen Zeit Fälschungen des biblischen Grundtextes im Umlauf waren, die entweder durch den Abschreibfehler eines Kopisten oder durch bewusste Fälscher begründet werden können. Der Ursprung von dem Codex Sinaiticus soll die Stadt Alexandria gewesen sein, die ein mystisch-spiritistisches Zentrum gefallener Christen war. Dies würde dafür sprechen, dass es sich beim Codex Sinaiticus um eine frühe (gnostische) Fälschung handeln könnte.

Das Handschriftenzeugnis für eingeborener GOTT ist hauptsächlich nur in einer von den fünf Handschriftenfamilien zu finden, nämlich in der alexandrinischen – wogegen die Formulierung eingeborener Sohn in allen enthalten ist. GOTT (altgr.: theos) ist wahrscheinlich ein Schreibfehler wegen der Ähnlichkeiten der Kurzformen von diesem Wort und dem Wort Sohn (altgr.: huios). In der Zeit vor Nicäa ist das ägyptische Alexandria das Zentrum der Glaubensauffassung im Römischen Reich gewesen, dass Jesus ganz GOTT gewesen ist. Somit können unprofessionell arbeitende Kopisten, die in Alexandria gelebt haben, wegen ihrer Christologie absichtlich Sohn durch GOTT ersetzt haben. Im Schoße des Vaters ist eine semitische Redewendung, die die Kind-Vater-Beziehung reflektiert und Sohn nahelegt. “Der Sohn im Vater“ knüpft an das wiederholt vorkommende Vater-Sohn Motiv und ihr beiderseitiges Innewohnen an (Johannes 10,38 / Johannes 14,10 f. + 20).

Der Ausdruck eingeborener GOTT passt nicht zu der Absicht, mit der dieses Evangelium geschrieben wurde (Johannes 20,31). Ein weiteres Thema von Johannes ist, dass der Sohn den Vater verkündet, erklärt und bekannt macht, indem er in Seinem Namen spricht und handelt (Johannes 3,11-13 / Johannes 5,19 / Johannes 14,9-11 / Johannes 15,15). Der Ausdruck eingeborener GOTT kommt nirgendwo sonst im Neuen Testament vor. Zudem passt eingeborener Sohn besser zum johanneischen Sprachgebrauch (Johannes 3,16 + 18 / 1. Johannes 4,9).

 

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